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Rebhuhn-Rasselbande



Als die ersten Gäste ankamen, erklärte Rainer Rebhuhn seinen Küken gerade, dass es drei große Gefahren für kleine Rebhühner gibt, 1. bei nasskaltem Wetter krank zu werden, 2. kein Futter zu finden und 3. aufgefressen zu werden. Der Rebhuhnvater hatte für heute eine Menge Freunde eingeladen, um seinem Nachwuchs die wichtigsten Überlebenstricks beizubringen. Er stellte sich vor, dass ein Küken den Greifvogel bestimmt schneller erkennen und weglaufen würde, wenn es schonmal einen gesehen hatte. Sein Vater hatte es bei ihm damals schließlich genauso gemacht. Allerdings war Rainers erster Fuchs alles andere als ein Freund seines Vaters gewesen.
Damit keiner zu Tode erschrecken würde, hatte Rainer Rebhuhn seinen Küken schon angekündigt, dass heute Besuch zum Unterricht kommen würde. Renatchen und Rita freuten sich schon sehr darauf, neue Leute kennenzulernen. Raphi hatte sich natürlich wieder nur dafür interessiert, ob es heute endlich Flugunterricht geben würde.
„Fliegen lernt ihr erst, wenn ihr zwei Wochen alt seid“, sagte Rainer ihm bestimmt zum tausendsten Mal.
Rieke, die das kleinste seiner 10 Küken war, schien etwas ängstlich zu sein.
Rainer hielt seine kleine Rieke nicht ohne Grund für das schlauste Küken dieses Frühjahrs. Schon als er im ersten Unterricht erklärt hatte, dass die Küken erst einmal nur Spinnentiere, Ameisen, Käfer, Schmetterlings­raupen, Blattläuse und andere tierische Nahrung essen sollten, hatte Rieke das gleich verstanden. Andere hatten zunächst versucht, es den Eltern nachzumachen und hatten Sämereien, Wildkräuter und Getreidekörner probiert.
„Das könnt ihr in drei Wochen mal probieren. Jetzt noch nicht!“, hatte Rainer ihnen gesagt. „Bis ihr soweit seid, dass ihr wie Erwachsene essen könnt, dauert es mindestens zwei Monate.“
Seine Rebhuhnfrau Regina hatte alle Kinder mit Nachdruck zum richtigen Fressen geführt, bis auch das letzte Küken verstanden hatte, dass man eiweißreiche Nahrung zum Wachsen braucht und wo man diese finden kann.
Auch wozu ein Rebhuhn ab und zu kleine Magensteine essen muss, wusste Rieke schon längst.
„Mit Steinchen im Magen kann man die Getreidekörner und alles viel besser verdauen!“, hatte sie ihm im Unterricht geantwortet und auf dem Sandboden mit ganz viel Elan gezeigt, wie ein Stein im Magen alles zermahlen würde. Das Ganze war ein bisschen eskaliert. Zehn kleine Küken hatten den Unterrichtsplatz komplett zerwühlt und ihr plüschiges Gefieder ganz schmutzig gemacht, bis Mutter Regina alle zur Ordnung gerufen hatte. Anschließend mussten alle baden, sogar Vater Rainer. Nach Rebhuhnart war es natürlich ein ordentliches Sandbad.
Zugegeben, manchmal wuchs Rainer seine Rasselbande etwas über den Kopf. Aber er liebte jedes seiner zehn Küken. Sie hiessen Rieke, Renate, Rita, Ruth, Ronja, Rebekka, Rolf, Raphael, Richard und Radagast. Sechs Mädchen und vier Jungen. Eine eher kleine Brut, aber er durfte hoffen, dieses Frühjahr viele Küken durchzubringen.


Eigentlich hatte Rainer vorgehabt, noch einmal zu wiederholen, was die Küken in letzter Zeit gelernt hatten, aber wo nun die Gäs-te auftauchten, war keine Gelegenheit mehr dazu. Die Küken waren zu abgelenkt, um sich jetzt noch dafür zu interessieren, wie man sich warm hält.
Rainer hatte den Küken genau erklärt, dass in den ersten drei Wochen kleine Rebhuhnküken leicht sterben können, wenn sie unterkühlen und krank werden. Er hatte sie nicht geschont und ihnen die Schauergeschichte erzählt, als ihm in einem Jahr alle Küken weggestorben waren, weil es genau in den zwei Wochen, nachdem die Küken geschlüpft waren, sehr nass und kalt gewesen war. Leider war die Geschichte wahr. Dass es mehr als einmal passiert war und immer wieder passieren konnte, hatte er den Kleinen lieber noch nicht erzählt, obwohl Regina es ihm geraten hatte.
„Das Leben ist hart genug“, hatte er Regina geantwortet. „Es reicht, wenn sie das erst später erkennen.“
Er hatte den Küken also gezeigt, wie man sich vor Nässe schützt. Wie man sich unter den großen Blättern von Kohl, Kartoffeln und Rüben verstecken kann. Und wie man sich in den Zwischenräumen schnell trocknen und aufwärmen kann, wenn die Sonne wieder auf den offenen Boden scheint.
Er hatte die Küken auch schon vor Dürre im Sommer gewarnt, wenn man zu wenig Wasser mit dem Futter aufnimmt und verdursten kann, und vor Schneemassen im Winter, wenn man nichts mehr zu fressen findet.
Eigentlich kannten sich Rainers zehn Küken mit Punkt 1 seiner Gefahrenliste, dem Wetter, also schon gut aus.
Punkt 2, die Futtersuche, hatte vor allem Mutter Regina den Küken beigebracht. Die Küken kannten alle Anbaugeräte, mit denen der Bauer die Felder bestellte, vom Güllefass über Pflug und Unkrautstriegel bis zur Giftspritze. Sie kannten die Getreidesorten Weizen, Hafer, Gerste und Roggen ebenso wie die Hackfrüchte Kohl, Kartoffeln und Rüben. Bis auf den kleinen Rolfi, der ein wenig lispelte, konnte jedes Küken sogar das Wort „Pestizide“ richtig aussprechen und wusste, dass dort, wo der Bauer Pflanzenschutzmittel großflächig ausbringt, wenig Unkraut-Futter für ein erwachsenes Rebhuhn gedeihen und wenig Insekten-Futter für die Küken überleben kann. Besonders stolz war Regina auf Rieke, weil sie von ganz alleine darauf gekommen war, dass es auch schlecht für die Gesundheit sein musste, wenn ein Rebhuhn nicht viele verschiedene Heilkräuter zum Essen finden kann.
Besonderen Spaß hatte die Rebhuhnfamilie gehabt, als es auf große Rundreise ging. Regina und Rainer hatten den Küken jeden Winkel ihres Reviers gezeigt, wo sie eigentlich lebten und was ein Rebhuhn braucht, um ein Zuhause zu finden. Sie hatten ein Stoppelfeld und eine Brachefläche besucht, wo man sich sehr gut ausruhen und Nahrung suchen kann. Es gab viel zu sehen in dem abwechslungs­reichen kleinen Revier, das der Vater und die Mutter, aber vor allem ja der Vater, schon seit ein paar Jahren erfolgreich vor Rivalen verteidigten. Da waren die Küken sehr stolz auf ihren Papa.
Regina hatte ihren Mädchen gezeigt, wo und wie ein Rebhuhn sein Nest am Boden im Dickicht bauen würde. Am geschicktesten darin, die flache Nestmulde mit weichen Pflanzenteilen auszukleiden, war Ruth gewesen. Ronja und Rieke hatten die besten Plätze in Feld- und Wegrainen, an Graben­rändern, in Hecken und an Gehölz­rändern vorgeschlagen. Dafür hatten die beiden einen Blick. Das Nest zu tarnen, wenn man mal nicht auf den Eiern sitzen kann, weil man z. B. Hunger hat, würden die Mädchen erst später noch lernen. Richi und Raphi konnten schon sehr gut einschätzen, welche Blickwinkel man während der Brutzeit im Auge behalten musste, um das Revier gegen Rivalen zu verteidigen. Die vier Jungs hatten immer wieder wilde Szenen nachgestellt und sich abwechselnd vom Brutplatz verscheucht. Das ging so lange und so laut, bis die Nachbarin Henriette Hase aufgetaucht war, um nach dem Rechten zu schauen. Renatchen und Rita hatten sich mit der jungen Häsin schnell angefreundet und so war Rainer Rebhuhn überhaupt auf die Idee gekommen, Gäste zum Unterricht einzuladen. Denn Henriette Hase kannte Frieda Fuchs, den weit und breit nettesten Fuchs, und so war die Sache ins Rollen gekommen.


Nun versammelten sich nach und nach neun Gäste bei der Familie Rebhuhn. Zeit also, sich um Punkt 3 von Rainers Gefahrenliste zu kümmern, der Frage „Freund oder Feind?“.
Zuerst kam Henriette Hase mit all ihren Freunden auf einmal: Frieda Fuchs, Ferdinand Fischadler, Lasse Laubfrosch, Igor Igel und Nils Nepomuk Nachtpfauenauge. Rainer Rebhuhn stellte zuerst sich und seine Frau vor und dann alle Küken. Als er gerade beim zehnten Küken angekommen war, kam Kevin Kaninchen hinzu, den allerdings niemand erwartet hatte. Er war nur aus reiner Neugier da. Bevor Rainer die Vorstellungsrunde wieder von Neuem beginnen konnte, tauchten noch Dr. Krähe und die Raupe, die sich Clarabella aus dem Ei nannte, auf. Dass der Arzt Dr. Krauchbert Krähe Zeit für seine Familie hatte, darüber freute sich Rainer besonders. Den hilfsbereiten Dr. Krähe von anderen Krähen unterscheiden zu können, war eine ziemlich lebenswichtige Lektion für kleine puschelige Rebhuhnküken.
Nachdem jeder jedem vorgestellt war, begann Rainer: „Meine Küken, unsere Gäste sind heute in den Unterricht gekommen, weil wir euch beibringen wollen, vor wem man lieber davonfliegen sollte und wer harmlos ist. Wisst ihr noch, welche Möglichkeiten ihr habt, euch vor Feinden zu schützen? Ja, Richard.“
Das Küken Richard hatte sich gemeldet und sagte nun eifrig: „Tarnen oder flüchten!“
„Ja, goldrichtig, mein Junge!“, lobte Rainer. „Heute lernt ihr, wann welche der beiden Möglichkeiten die bessere ist. Aber zuerst stelle ich euch den Igel und die Krähe vor. Zuerst den Igel. Igor, darf ich dich bitten vorzutreten?“
Igor trat in die Mitte der Unterrichtsrunde und kam sich dabei wie ein pummeliges Fotomodel vor.
„Igor ist ein Igel“, stellte Rainer ihn vor. Igor dachte, dass es bestimmt gut wäre, wenn er sich jetzt ein bisschen drehen würde, damit alle Küken ihn von allen Seiten sehen konnten. Also drehte er sich langsam wie in Zeitlupe um sich selbst, während Rainer weitersprach: „Das erkennt man natürlich an den Stacheln. Igor hier ist zwar unser Freund, aber wenn ihr jemals einen anderen Igel treffen solltet, könnt ihr ihm sehr leicht davonlaufen oder -fliegen. Jetzt ist ein Igel für euch schon recht harmlos, aber als ihr noch in euren Eiern stecktet, war ein Igel für euch sehr gefährlich, denn Igel fressen gerne Eier. Das gilt auch für viele andere Tiere. Danke, Igor, das war’s schon!“
Igor atmete erleichtert aus. Erst jetzt merkte er, dass er die Luft angehalten und den Bauch eingezogen hatte. Er stellte sich wieder an seinen alten Platz neben Ferdinand und hörte weiter zu.
Währenddessen hatte Rainer schon Dr. Krähe aufgerufen, der erheblich selbstbewusster im Mittelpunkt stand. Stolz stand er im Kreis der Küken und sah jedes einzelne über seinen Brillenrand streng an.
„Dr. Krähe kennt ihr schon. Vielleicht wisst ihr das nicht mehr. Er hat euch schon einmal untersucht, als ihr gerade geschlüpft wart. Merkt euch gut, wie Dr. Krähe aussieht! Er hilft euch, wenn ihr krank seid. Aber andere Krähen sind nicht hilfsbereit. Auch Krähen essen sehr gerne Eier. Welche anderen Tiere gerne Eier fressen, das erkläre ich euch ein anderes Mal. Wichtiger ist jetzt erst mal die Frage, was man tun kann, um sich vor Igel oder Krähe zu schützen?“
„Was soll man da schon machen?“, fragte Rieke. „Im Ei überhaupt gar nichts.“
„Das stimmt“, nickte Rainer. „Das Küken im Ei kann sich nicht selbst helfen. Die Mutter muss das Nest gut verstecken und tarnen. Sie muss sich sehr ruhig verhalten, damit keiner weiß, wo das Nest zu finden ist. Aber sie kann noch mehr tun. Wenn jemand dem Nest zu nahe kommt, kann sie ganz plötzlich auffliegen und den Feind so erschrecken, dass er kehrt macht. Wenn das nicht funktioniert, kann sie den Feind in die falsche Richtung, also von den Eiern weg locken. Das macht sie, indem sie so tut, als hätte sie sich den Flügel gebrochen. Regina, mach’s doch mal vor!“
Regina Rebhuhn ging in die Mitte. Dr. Krähe, der wohl wusste, dass diese Vorführung mehr Platz brauchen würde, trat beiseite. Und schon begann Regina ganz furchtbar zu piepen und laut zu flattern. Es sah so aus, als wollte sie losfliegen, aber ihr Flügel hing schlaff und in einem komischen Winkel herunter, so dass sie immer mehr in Panik geriet. Sie drehte sich im Kreis, hüpfte vergeblich in die Höhe, aber sie konnte nicht losfliegen. Der Flügel hing nutzlos herunter. Ein paar Küken schauten sehr erschreckt. Sie hatten Angst um ihre Mama. So echt sah es aus.
„Seht ihr, sie macht dann so einen Lärm und tut so hilflos, dass der Feind ihr nachsetzt, weil er sie für leichte Beute hält, und von den Eiern abgelenkt wird. Wenn der Feind weit genug weg ist, ist die Mutter plötzlich wieder geheilt und fliegt davon.“
Regina machte auch das vor: Plötzlich war der Flügel wieder heile und sie startete durch. Regina flog einen kleinen Bogen und kam zurück. Sie landete in der Nähe und bekam von allen einen tosenden Applaus.
Rainer klatschte auch und, als es wieder ruhiger wurde, fuhr er fort: „Das Manöver nennt man „Verleiten“. Auch in eurem Alter, weil ihr ja selbst noch nicht davonfliegen könnt, ist es für eure Mutter und mich sehr nützlich. Das Verleiten übt Mama später mit euch. Aber vorher müsst ihr erst fliegen lernen. Das ist wichtiger.“
Rainer nickte jetzt in Richtung von Frieda Fuchs: „Frieda, du bist an der Reihe.“



Frieda trat nicht einfach nur vor wie die anderen, sondern stürzte mit gefletschten Zähnen auf die Küken zu, als wollte sie alle zehn mit einem Happs verspeisen. Die Küken schrien auf und sprangen panisch in die Höhe. Aber sofort war Frieda wieder zurückgewichen und saß nun in aller Seelenruhe grinsend in der Mitte.
„Nur ruhig! Frieda tut euch ja nichts“, beruhigte Rainer.
Die Küken lachten vor Erleichterung wie verrückt, kuschelten sich ängstlich aneinander oder hüpften noch eine Weile ganz aufgeregt durcheinander. Regina und Rainer beruhigten die aufgedrehten Küken und trösteten die erschrockenen.
„Das war sehr gut“, lobte Rainer. „Ich weiß nicht, ob ihr es mitbekommen habt, aber als der Fuchs kam, habt ihr alle instinktiv die richtige Entscheidung getroffen und wolltet fliegen. Tarnen hätte nichts mehr genützt. Fliehen und zwar hoch in die Luft, wohin der Fuchs euch nicht folgen kann, das war genau die richtige Wahl! Danke, Frieda!“
Frieda genoss ihren Auftritt bis zum letzten Moment. Sie drehte sich im Weggehen noch einmal ruckartig um und knurrte, so dass die Küken wieder schrill aufschrien und schließlich erleichtert lachten.
„Nun frage ich euch, meine Küken, wann wäre es weiser gewesen, sich vor dem Fuchs zu tarnen und zu verstecken?“
Ruth wusste die Antwort: „Wenn ich ihn zuerst gesehen und der Fuchs mich noch nicht gefunden hätte.“
„Ganz genau“, sagte Rainer und rief dann Ferdinand Fischadler auf.
„Übrigens, wenn man plötzlich fliehen muss, ist ein Feld mit Kartoffeln, Rüben oder Kohl optimal. Man kann zwischen den Reihen nämlich sehr schnell Fahrt aufnehmen und starten“, bemerkte Rainer noch, während Ferdinand vortrat.
Da Ferdinand wusste, dass sein großer Auftritt noch folgen würde, ging er nur einfach erst einmal in die Mitte.
„Unser Freund Ferdinand hier ist ein Fischadler. Er steht für eine ganze Reihe von Greifvögeln, die gerne Rebhuhn in allen Altersstufen fressen. Auch ich müsste mich sehr vor ihm in Acht nehmen, wenn es nicht gerade Ferdinand wäre. Aber wie würde ich das machen? Greifvögel können schließlich auch fliegen. Kann ich ihm davonfliegen? Was meint ihr?“
Die Küken waren sich nicht einig. Raphi und einige andere meinten, dass man sicher nur ordentlich Gas geben musste, dann konnte man Ferdinand abhängen. Schließlich war der Greifvogel groß und schwer und daher bestimmt sehr langsam. Wie eine Taube. Rieke war anderer Meinung. Sie glaubte, dass Ferdinand viel zu schnell wäre, um ihm zu entkommen.
„Er sieht sportlich aus“, piepste sie.
Ferdinand wurde ein bisschen rot. Nun sollte er zeigen, was in ihm steckte. Gegen den Rebhuhnvater Rainer, der noch ein wenig schneller als die Mutter Regina war, sollte er einen Wettflug machen. Ferdinand gegen das schnellste Rebhuhn der Familie!
Rainer und Ferdinand stellten sich am Rand des Ackers nebeneinander auf und warteten auf das Startsignal.
Regina rief: „Auf die Plätze! Fertig! Los!“
Und dann ging es los. Ferdinand flog so schnell, wie er konnte. Zuerst sah er Rainer noch ganz dicht bei sich aus dem Augenwinkel. Aber bald hatte er keine Augen mehr dafür. Er flog so schnell, dass ihm der Wind hören und sehen vergehen ließ.
Aber auch Rainer gab alles. Die Küken hatten ihn oft genug fliegen sehen und wussten, wie schnell ihr Vater fliegen konnte. Sie sollten sehen, dass er wirklich alles gab und dass da keine Schummelei dabei war.
Ferdinand gewann. Er hatte das andere Ende des Ackers erreicht, als Rainer gerade auf der Hälfte war. Als auch Rainer dort angekommen war, flogen beide gemeinsam zurück, so dass die Küken auch den Größenunterschied gut sehen konnten. Ihr Vater wirkte recht klein neben dem Adler.
„Hurra!“, riefen alle Küken und die Erwachsenen klatschten, als die beiden Wettkämpfer zurück waren.
„Ferdinand“, keuchte Rainer etwas aus der Puste, „ist beides, schnell und groß. Aber es gibt noch sehr viel größere Greifvögel auf der Welt. Aber auch kleinere, die noch viel schneller sind als Ferdinand. Alle sind sie mordsgefährlich! Und das Fliegen hilft euch nichts. Man muss immer auf der Hut sein vor ihnen. Man muss sie möglichst früh kommen sehen und dann ab ins nächste Gebüsch. Es hilft nur, sich im Dickicht zu verstecken, wohin sie euch nicht folgen können. Habt ihr das verstanden?“
„Ja!“, riefen alle Küken.
„Gut“, sagte Rainer. „Welche Feinde zu Fuß oder durch die Luft sonst noch auf euch zu kommen können, das lernt ihr morgen. Heute wollen wir die Gelegenheit nutzen, dass wir so viel Besuch haben. Ich will euch die anderen auch noch vorstellen. Zunächst mal die guten Nachbarn. Henriette Hase kennt ihr ja schon. Sie wohnt gleich nebenan und ein Hase tut uns nichts. Genauso ein Kaninchen wie Kevin hier. Auch er und seine Großfamilie werden euch nicht fressen. Lasse hier ist ein Laubfrosch. Er wohnt nicht am Acker und ihr werdet ihn wohl eher selten treffen. Auch er ist harmlos.“
Rainer war, während er dies erklärte, an Henriette, Kevin und Lasse vorbeigegangen und hatte ihnen jeweils die Hand auf die Schulter gelegt, wenn von ihnen die Rede war. Nun trat er auf Nils Nachtpfauenauge und die Raupe Clarabella zu.
„Es gibt große Tiere, die uns fressen wollen, aber es gibt auch kleine Tiere, die wir selbst essen wollen. Freunde isst man natürlich nicht auf. Aber wenn Nils und Clarabella keine Freunde wären,…naja, das wisst ihr ja schon“, hörte Rainer abrupt auf. Es schien ihm wohl unangenehm zu sein, Freunde als Nahrungsquelle vorzustellen.
In der nun einsetzenden Stille meldete sich plötzlich Dr. Krähe zu Wort: „Hat jemand Lust, zum Abschluss noch eine Geschichte zu hören?“
Das mochten sie alle natürlich gern. Rebhuhnvater Rainer war für heute mit seinem Unterricht auch zufrieden, so dass sich alle anhörten, was Dr. Krähe nun erzählte: „Es ist eine Geschichte aus tausendundeiner Nacht, die Geschichte des Rebhuhns mit den Schildkröten. Aber ich sag es lieber gleich, sie endet nicht gut.“
Dr. Krähe erzählte ihnen eine spannende, lehrreiche und traurige Geschichte. Irgendwie stellte sich anschließend heraus, dass er alle Geschichten aus tausendundeiner Nacht auswendig kannte. Es gab Geschichten über Bären, Mäuse, Falken, Raben und viele andere Tiere. Die wollten die Küken und die Freunde gerne alle auch noch hören.
„Ich glaube, wir suchen uns besser ein bequemes Plätzchen“, schlug Dr. Krähe vor. „Es könnte länger dauern, bis ich euch alle Geschichten erzählt habe, die ihr hören wollt. Hunger und Durst haben wir zwischendurch bestimmt auch mal. Also, Herr Rebhuhn, geh doch am besten mal voran.“
Als es dunkel wurde, musste man Kerzen aufstellen, damit sich die Küken nicht fürchteten. So wirklich Unterrichtsschluss war an diesem Frühlingstag lange nicht.


Ina Wosnitza
Naturschutz & Naturparke, Heft 234
Mitgliederzeitschrift des Vereins Naturschutzpark e.V. (VNP)
>www.verein-naturschutzpark.de



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